Autofreie Familie in der Klein- & Mittelstadt – Traut euch!

Autofreie Familie in der Klein- und Mittelstadt

Dieser Artikel soll Dir helfen, den Mobilitätsbedarf Deiner Familie systematisch zu analysieren. Er wendet sich dabei vorrangig an die ganz „normale“ (Regenbogen-, Klein-, Patchwork- oder, oder) Familie aus der Klein- oder Mittelstadt. Ihr seid soweit fit, dass ihr 5-10km mit dem Fahrrad oder Pedelec fahren könnt und eure Kinder sind zwischen „in Produktion“ und „ausgezogen“. Dadurch kennt ihr die Herausforderungen des täglichen Wegemanagements zwischen Kita, Arbeit, Flötenunterricht und Supermarkt en détail. Gerade deswegen wollt ihr eure Familienlogistik genauer unter die Lupe nehmen und auf den Prüfstand stellen. Denn ihr möchtet zunehmend unabhängiger von euren zwei Autos sein, vielleicht sogar eines oder gar beide verkaufen. 

Kenne Deine Wege – Sie sind kürzer, als Du denkst

Von ungefähr 83 Millionen Menschen in Deutschland leben gut 45 Millionen in Klein- und Mittelstädten*. Das sind über 50% der Bevölkerung! Bezogen auf des Remstal und sein näheres Umfeld sind das allein acht Mittelstädte**. Die kleinste davon ist Weinstadt mit rund 27k Einwohnern, die größte ist Ludwigsburg, die mit 93k Einwohnern schon am Titel „Großstadt“ kratzt. Von der Nähe zu Stuttgart möchte ich gar nicht anfangen. 

Allein die Nähe zu einer Mittelstadt bietet alle Dinge des regelmäßigen und unregelmäßigen Bedarfs.
Hierin verbirgt sich ein unglaublich hohes und bisher oftmals ungenutztes Potenzial für Familien (natürlich auch für alle anderen). Zumindest in meinem Umfeld gibt es trotzdem nur Familien mit zwei Autos und ganz wenige mit einem. Autofreie Familien kenne ich keine.
Wer sich das vor Augen führt, seinen Bedarf analysiert und mit den Angeboten der eigenen Stadt abgleicht, kann eine Menge Kilometer und Zeit sparen. Und vielleicht sogar zu dem Schluss kommen, dass ein Fahrzeug gehen darf.

Im ersten Schritt unserer systematischen Anlayse soll nun der Mobilitätsbedarf Deiner Familie erhoben werden. Überlege Dir, welche Orte Du aufsuchst, um Dein Leben am Laufen zu halten. Die Reiter zeigen Dir eine Vorauswahl an Zielen des alltäglichen Bedarfs. Natürlich erhebt sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vermutlich sind einige zu viel und andere fehlen.

Lebensunterhalt

Arbeitsstelle

Einkaufen - Food

Bäcker
Bioladen
Discounter
Drogerie
Getränke
Lebensmittel
Metzger
Reformhaus
Supermarkt
Weinhandlung
Wochenmarkt

Einkaufen - Non Food

Baumarkt
Bekleidung
Buchhandlung
Einrichtungshaus
Gartencenter
Schuhe
Spielwaren
Zoomarkt

Gesundheit

Allgemeinarzt
Apotheke
Augenarzt
Frauenarzt
Hautarzt
HNO
Kieferorthopäde
Kinderarzt
Physiotherapie
Zahnarzt

Dienstleister

Bahnhof
Bank
Fahrradwerkstatt
Friseur
Paketdienst
Post

Bildung & Sport

Grundschule
Kindergarten
Musikschule
Sportvereine
Weiterführende Schule

Entsorgung

Grüngut
Mülldeponie
Wertstoffhof

Freizeit

Freibad
Hallenbad
Kino
Kneipen
Restaurants
Spaßbad
Theater
Wald/Parkanlage

Freunde & Verwandte

Freunde
Freunde der Kinder
Großeltern
Sonstige Verwandte
Tanten/Onkels

 

In der PDF „Familienmobilität“ sind alle Ziele nochmals übersichtlich dargestellt. Fülle sie allein oder zusammen mit Deiner Familie aus, um Dir einen Überblick zu verschaffen.


Ziehe Deine Kreise – Leben auf 314 Quadratkilometern

Wenn Du Dir über Deine Alltagswege klar geworden bist, ist der nächste Schritt, sie zu veranschaulichen. Dazu ziehst du um Deinen Wohnort erst einen Kreis mit 5km Radius und anschließend einen mit 10km. Beide Karten druckst du aus und setzt für jeden Eurer Alltagswege einen farbigen Punkt (Legende im Bild) auf die Karte. So entsteht das Wegemuster Deiner Familie. 

Alle Wege innerhalb von 5km um Dein Zuhause sind mit dem Fahrrad oder Pedelec in 15-20 min zu bewältigen. Die Ziele im 10km-Umkreis erreichst du innerhalb einer guten halben Stunde.

Daran ändert sich nichts, egal ob Du in Winnenden oder Berlin wohnst. 10km bleiben 10km. Ob man diese Strecken durch Streuobstwiesen oder den Großstadtdschungel fährt, ist egal. Diese Erkenntnis hat für mich die Wahrheit von „Autofrei geht nur in der Großstadt“ merklich ins Wanken gebracht. Innerhalb einer Großstadt sind die Wege nicht zwingend kürzer, nur dichter bebaut. 

5km-Radius

Die beiden Karten zeigen einen Ausschnitt aus den Alltagswegen meiner Familie. Bei weitem nicht alle, das würde die Karte sprengen. Nahezu alle Wege liegen innerhalb von 10km um meinen Wohnort. Entweder waren die Ziele schon immer in der Nähe (Das ist meistens der Fall) oder sie wurden aktiv ausgesucht (z.B. einige Ärzte oder die Fahrradwerkstatt im Ort).
Diese Strecken sind für uns locker ohne Auto und alltagsverträglich zu bewerkstelligen. 

10km-Radius

Alles kann, nichts muss – Wie mobil musst und möchtest Du sein?

Wahrscheinlich finden sich auf Deiner Liste auch Ziele, die den 10km-Radius sprengen. Das bedeutet aber nicht, dass man dafür nun doch ein KfZ braucht. Bei mir ist das beispielsweise der tägliche Arbeitsweg (einfach 20km), den ich sechs Jahre lang täglich mit dem Auto zurückgelegt und dabei ungefähr !50 000km! auf selbiges gespult habe. Von 2016 bis Februar 2020 war ich dann mit der Bahn unterwegs. Seither nehme ich auch dafür das Pedelec. Ich habe also eine Möglichkeit gefunden, es anders zu machen. 

Die eigene Fahrweganalyse eröffnet Dir die Chance, Dinge neu zu denken und anders zu machen.
Stelle Wege in frage und finde Alternativen. Muss es genau der Friseur im 15km entfernten Städtchen sein oder gibt es auch fußläufig einen guten Salon? Muss ich mit meiner Tochter unbedingt in die Pikler-Gruppe nach Stuttgart oder habe auch hier ein ähnliches Angebot. Könnte mein Sohn in der normalen Grundschule glücklich werden und bald seine Freunde in der Nachbarschaft allein besuchen oder ist mir die Waldorfschule wichtiger, wo die wenigsten Kinder aus seinem direkten Umfeld stammen.

Autos beschleunigen nicht nur die Insassen, sondern auch deren Leben.
Wir können in unseren Alltag plötzlich viel mehr Strecken und Aktivitäten einbauen. Unbemerkt lässt das den Alltag immer voller werden. Nur das dumpfe Gefühl, dass das jetzt alles irgendwie doch ein bisschen viel ist, sitzt uns im Nacken. An dieser Stelle „Stopp!“ zu sagen und die eigenen Gewohnheiten zu hinterfragen, kann Dir das Leben erleichtern.

Ohne Auto beginnt man zu priorisieren.
„Mal g‘schwind“ gibt es dann unter Umständen einfach nicht, weil die Sache doch nicht wirklich wichtig ist. Ob ich das als heilsam und entlastend empfinde oder als untragbaren Freiheitsentzug? Für mich ist es eine Einladung das eigene Umfeld zu erkunden und mit neuen Augen zu sehen. Es macht mir Spaß, meinen Alltag aktiv und anders zu gestalten. Kennst du denn schon alle Metzger, Blumenhändler und Spielplätze auf Deinem Arbeitsweg? Vermutlich nicht, denn mit 120 auf der Bundesstaße bekommst Du nur die Rücklichter Deines Vordermanns zu sehen. Du musst nicht von heute auf morgen Deine Mobilitätsgewohnheiten auf links krempeln und damit Deiner Familie unendlich auf die Nerven gehen. Nein, es reicht völlig, wenn ihr euch innerhalb der fünf Kilometer vor eurer Haustüre austobt. 

Ja, aber IKEA… – Mach‘ ein Event daraus!

Bevor Du jetzt Luft holst, um mir zu sagen, dass IKEA aber schon weit weg ist, so ein PAX sich nicht in der S-Bahn transportieren lässt und die Oma im Saarland wohnt, der Weg dahin so umständlich ist und ihr deswegen eine Auto braucht:
Ich will Dir das Auto nicht ausreden. Ich will nur, dass Du ehrlich mit Dir bist.
Ob Du ein Auto hast, weil Du darauf angewiesen bist, Du bisher nur noch nicht über Deinen Schatten springen konntest oder ob Du es aus Bequemlichkeit fährst, kann ich nicht entscheiden. Ich werde mich hüten, darüber zu urteilen.

Um mal das IKEA-Beispiel zu bemühen: Wer sagt eigentlich, dass wir schnell mal zu IKEA, zum Shoppen oder sonst wohin müssen? Solche Sachen sind doch planbar. Meine Familie ist deswegen dazu übergegangen, einen Ausflug daraus zu machen. Bei ordentlichem Wetter radelt es sich wunderbar nach Ludwigsburg oder Stuttgart. Auf dem Hin- oder Rückweg gibt es dann noch den einen oder anderen Halt am Spielplatz oder wir kehren an einem Biergarten ein. Bei schlechtem Wetter wird der Ausflug eben verschoben. Was kann denn schon so unglaublich dringend sein?

Und wie kommt der PAX in mein Schlafzimmer, wenn ich es endlich zu IKEA geschafft habe? Der hat damals schon nicht in meinen Lupo gepasst, deswegen nach wie vor: Liefern lassen 🙂


* Einwohner Deutschlands: 83,17Mio (2019)
Großstädte (>100k): 26,72 Mio – 32,13%
Mittelstädte (20k – <100k):  22,846 Mio – 27,47%
Kleinstädte (5k – <20k): 22,06 Mio – 26,52%
Dörfer (<5k):11,5 Mio – 13,83%
Quelle: Wikipedia

** Backnang: 37 348
Fellbach: 45 669
Ludwigsburg: 93 584
Schorndorf: 39 775
Schwäbisch Gmünd: 61 137
Waiblingen: 55 604
Weinstadt: 27 082
Winnenden: 28 240
Quelle: Wikipedia

5 Kommentare

  1. Wir wohnen im Süden von München und haben seit 14 Monaten auch einen Multicharger.
    Seitdem wird unser Auto kaum noch bewegt und der Multicharger hat fast 6000km auf der Uhr.
    Der Multicharger wird für das tägliche Pendeln (9km einfach), den täglichen- sowie Wochenend Einkauf und natürlich für Fahrradtouren genutzt.
    Dabei werden Orte beim Einkaufen bis zu 30 km einfach aufgesucht, die Mehrheit spielt sich aber im 15 km Radius ab.
    Die Nutzung geschieht bei jedem Wetter, was im Winter bei uns Spikes voraussetzt und eine regelmäßige Reinigung vom Streusalz.
    Wir waren überrascht, wieviele Auto-Kilometer sich einsparen lassen, wenn man sich nur drauf einlässt.
    Alles in allem war die Anschaffung ein voller Erfolg für die Umwelt und unsere Gesundheit.

    • Remstalkind

      Hallo Jan,
      vielen Dank für deinen Kommentar. Genau das ist auch unsere Erfahrung. Einfach mal machen!
      Spikes hätte ich mir dieses Jahr auch schon kurzzeitig gewünscht. Wie macht ihr das logistisch? Lohnt es sich bei euch die Spikes im Oktober aufzuziehen und erst im Frühjahr wieder zu wechseln oder wechselt ihr nach Wettervorhersage (, was ich mir sehr aufwändig vorstelle)?
      Euch weiterhin gute und sichere Fahrt!

      • Hallo

        Ja, genau.
        Die Spikes kommen je nach Wetterlage Ende Oktober oder im November drauf und sind jetzt vor 2 Wochen wieder runter gekommen.
        Leider etwas zu früh, da es noch Schnee danach gab. Deswegen musste ich zwei mal das Auto zum Pendeln nehmen.
        Natürlich überwiegen in Summe die Fahrten, bei denen es keine Spikes gebraucht hätte.
        Jedoch, wer sich mal so richtig nett auf einer Eisplatte mit dem Rad abgelegt hat, den stört auch das panzerähnliche Geräusch auf Asphalt nicht. Zusätzlich wird die Klingel überflüssig.
        Aber mit Winterreifen am Auto ist es ja ähnlich. Die Tage, wo ein Winterreifen wirklich an seine Grenzen kommt und gefordert wird, sind ja auch eher selten.
        Und ganz ehrlich, der Multicharger macht im Winter bei Neuschnee mit Spikes so richtig Spaß. Die Taschen sind fix abgebaut und dann hat man im Prinzip ein e-MTB zum rumheizen.

        Viele Grüße,
        Jan

  2. Ein wirklich toller Artikel! Ich finde es toll, wie du die Möglichkeiten aufzeigst! Ich habe auch erst in München gelernt, wie weit man mit dem Fahrrad kommt. Und tatsächlich sind 10 km auf dem Land sogar oft schneller, weil man weniger Ampeln als in der Stadt hat. Ich brauche hier in der Großstadt sogar fast 40 Minuten für 11 km – obwohl ich eher zügig fahre. Also so viel zum Gerücht „Mit dem Fahrrad pendeln kann man nur in der Großstadt“.

    • Remstalkind

      Hallo Svenja,
      vielen Dank, auch für die Bestätigung 😉

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